Wichtig für den Start ins Leben

Univ.-Prof. Dr. Herbert Scheithauer zur frühen Prävention bei Kindern unter drei Jahren

Univ. Prof. Dr. Herbert Scheithauer ist Entwicklungspsychologe an der Freien Universität Berlin. Er war mit seinem Team und seinem wissenschaftlichen Know-how maßgeblich an den Inhalten und der Evaluation des Programms Papilio-U3 beteiligt. Schwerpunkt ist, im Idealfall schon so früh anzusetzen, dass Probleme erst gar nicht entstehen.

Warum braucht es überhaupt ein Programm wie Papilio-U3?
Prof. Scheithauer: Die Betreuung von Kindern unter drei Jahren ist seit 2013 ein gesetzlich verbriefter Anspruch. Davor gab es vor allem Kitas für über Dreijährige. Mit der steigenden Nachfrage kamen für die Kita-Träger viele Fragen auf: Wie arbeitet man mit diesen sehr jungen Kindern? Wie schafft man eine Gesamtstrategie für die Kinder unter und über drei Jahren?

Der Anspruch auf den Kita-Platz für unter Dreijährige entstand mehr oder weniger von jetzt auf sofort. Das empfinde ich als eine unglaublich große Herausforderung für die Kitas. Es fehlte aufseiten der Erzieherinnen und Erzieher an entsprechender Ausbildung. Und es fehlte an evaluierten, qualitätsgesicherten und praxisfähigen Programmen und an Ansätzen, welche die Betreuung von unter und über Dreijährigen zusammenführen. Hier machen wir mit Papilio ein Angebot, mit dem wir an unseren großen Erfahrungen mit Drei- bis Sechsjährigen anknüpfen können.

Wie kann man Kitas dafür fit machen, mit so jungen Kindern zu arbeiten?
Zunächst muss eine Einrichtung entsprechend ausgestattet sein, das kann man organisieren. Viel wichtiger ist: Es braucht Erzieherinnen und Erzieher, die auf die Bedürfnisse diese sehr kleinen Kinder eingehen können, sie betreuen und emotional, pädagogisch und akademisch fördern können.

Die Erzieherinnen und Erzieher, die das heute machen, sind sehr engagiert. Aber ich glaube, das ist noch nicht optimal gelöst, denn für die Arbeit mit unter Dreijährigen sind sie ja gar nicht ausgebildet worden. Dabei geht es mir nicht um Tätigkeiten wie wickeln und füttern, sondern um die Frage: Wie muss ich mit Kindern unter drei Jahren arbeiten, um sie z.B. in ihrer emotionalen Entwicklung bewusst zu fördern?

Und worauf kommt es hier an?
Wir sind der Meinung, dass es einen zentralen, übergeordneten Entwicklungsbereich gibt, die sozial-emotionalen Kompetenzen. Das sind grundlegende Fertigkeiten und Fähigkeiten: zum Beispiel zu verstehen, wie man sich fühlt, oder wie sich andere fühlen, und woran ich dies etwa im Gesichtsausdruck erkennen kann. Diese Kompetenzen kann man fördern, und sollte man fördern, wenn Kinder vielleicht noch nicht so gut darin sind. Sie entwickeln sich über Jahre, deshalb sprechen wir bei den unter Dreijährigen noch von Vorläuferkompetenzen. Erzieherinnen und Erzieher sollten im Detail wissen, wie man diese sozial-emotionalen Kompetenzen bei den Kindern fördert. Wichtig ist zudem die Verhaltensentwicklung der Kinder, beispielsweise, dass ein zweijähriges Kind lernt, sich zu beherrschen und nicht andere zu schubsen, wenn ihm etwas nicht gefällt.

Für diese beiden Themenbereiche – neben vielen weiteren – haben wir eine Fortbildung entwickelt, die auch Übungen enthält. Es beginnt mit einem Kommunikationstraining. Mit kleinen Kindern muss man anders kommunizieren, sie verstehen noch nicht alles, die Sprachebene reicht da nicht.

Was heißt das konkret?
Zentral wichtig ist die Emotionsregulation, also z.B. zu lernen, was ich tun kann, wenn ich mich nicht gut fühle. Das setzt auch voraus, dass ich verstehen muss, WIE es mir überhaupt geht und woran ich das erkenne. Kinder in dem Alter können das noch nicht selbst, sie brauchen die Unterstützung der Erzieherinnen und Erzieher. Wir vermitteln dafür in der Fortbildung zum Beispiel den „Emotion Talk“. Das ist eine Kombination aus Körperhaltung, Mimik und Stimmlage, die die Kinder darin unterstützt, ihre Emotion zunächst einmal besser zu verstehen, dann damit umzugehen und ihre emotionale Befindlichkeit zu regulieren. Das erfordert einen ganz speziellen Emotionsausdruck, mit dem die Erzieherinnen und Erzieher sozusagen eine Emotion des Kindes „spiegeln“. Den vermitteln wir ihnen theoretisch und üben ihn in Rollenspielen ein. Teilweise nervt das die Teilnehmenden am Anfang sogar, da Emotion Talk bedeutet, dass die Emotion sehr überzogen und deutlich gespiegelt werden soll - dies fällt anfangs nicht leicht, aber letztlich funktioniert es.

Dabei dürfen Emotion auch nicht bewertet werden. Ein Wutanfall oder Weinen sind nichts Schlechtes, sie sind Signale der Kinder, die Erzieherinnen und Erzieher erkennen und auf die sie richtig reagieren müssen.

Die Kinder lernen damit nach und nach, ihre Emotionen selbst zu regulieren. Sie können dann auch besser Emotionen bei anderen Kindern verstehen und lernen z.B., wie sie anderen Kindern helfen.

Das klingt so einfach, aber schreiende Kinder können doch auch nerven?
Selbstverständlich, als Vater kenne ich das auch. Aber hier in der Fortbildung geht es auch ans Eingemachte: Die Erzieherinnen und Erzieher selbst stehen im Mittelpunkt. Welche Erwartungen haben sie an die Kinder und an ihr Verhalten, oder an das Temperament der Kinder? Welche Erfahrungen haben sie selbst als Kind gemacht? Ein schreiendes Kind kann sich nicht selbst helfen, es braucht Unterstützung. Übergeordnetes Thema ist hier die Bindung und mit Dr. Ina Bovenschen haben wir eine Expertin gewinnen können, die mit uns das Feinfühligkeitstraining maßgeblich entwickelt hat (siehe Interview unter www.papilio.de/pressetext/was-brauchen-diese-kleinen-kinder-in-der-kita.html).

Das heißt, auch die Erzieherinnen und Erzieher müssen sich entwickeln?
Sie entwickeln sich in ihrer professionellen Grundhaltung weiter. Im Berufsalltag mit Kindern geht es immer auch um den Umgang mit den eigenen Emotionen, z.B. um den Umgang mit Überforderungen. Wir vermitteln auch, wie sie auf sich selbst achten. Diese Achtsamkeit im Umgang mit den eigenen Emotionen wirkt auch nach außen. Papilio-U3 hat letztlich ganz viel mit Haltung zu tun. Achtsamkeit ist eine hochprofessionelle Haltung, die man üben und sich aneignen kann – gegenüber sich selbst und jedem einzelnen Kind gegenüber.

Aber ich kann ja nicht jedes Kind in der Kitagruppe individuell fördern …
Doch, das kann man – genau darum geht es, um die individuelle Entwicklungsförderung. Kinder sind verschieden. Das eine ist lebhafter und braucht mehr Input, das andere braucht mehr Ruhe, weniger Reize. Hier gibt es kein gut oder schlecht, sondern wir vermitteln den Erzieherinnen und Erziehern, wie sie darauf reagieren, wie sie die unterschiedlichen Temperamentsausprägungen fördern. Natürlich ist es nicht einfach, im Alltagsgeschehen auf die gesamte Gruppe UND auf die Bedürfnisse des einzelnen Kindes einzugehen – Erzieherinnen und Erzieher haben hier eine große Aufgabe zu bewältigen. Dazu bieten wir zum Beispiel auch eine Spielesammlung an, aus der sich die Erzieherinnen und Erzieher das jeweils passende aussuchen, zum Beispiel, damit Kinder lernen, einen Verhaltensimpuls zu kontrollieren.

„Kontrollieren“ klingt eher rigide …
Nein, keinesfalls. Wenn ein Kind lernt, Verhaltensimpulse zu kontrollieren, wird es mit seinem Verhalten auch besser mit Gleichaltrigen zurechtkommen. Wenn ein Kind schreit, weil es etwas nicht bekommt, dann erfährt es von der Erzieherin, dem Erzieher Hilfe, mit seiner Wut umzugehen. Wichtig ist es aber, dass das Kind bestenfalls lernt, erst gar nicht zu schreien, sondern zu lernen, dass es – wenn etwas nicht gleich so läuft, wie das Kind es möchte – eben etwas wartet und dann zum Zuge kommt. Es kann das noch nicht selbst, aber es ist wichtig, das zu lernen. Mit Papilio-U3 sprechen wir sehr basale grundlegende Kompetenzen für dieses Lebensalter an und schaffen eine Anschlussfähigkeit zu den über Dreijährigen. Wir wissen aus Längsschnittstudien, dass diese Kompetenzen bis in die Schulzeit und sogar ins Jugendalter hinein eine positive Wirkung haben können.

Sie haben das Modellprojekt mit einer Evaluation begleitet. Gibt es schon Ergebnisse?
Wir haben sehr umfangreiche Daten, mit denen wir noch weiter forschen können. Ein erstes, sehr wichtiges Ergebnis ist, dass alle Kinder sich im Mittel positiv entwickeln. Aber die größten Fortschritte bei der Bindungssicherheit machen die Kinder, bei denen wir anfangs eine geringere Bindungssicherheit beobachtet haben. Das heißt, Papilio-U3 bewirkt genau bei den Kindern am meisten, die es am nötigsten haben.

Nicht unbedeutsam ist auch, dass Fachkräfte mit einem guten Ausbildungshintergrund Papilio-U3 besonders erfolgreich umsetzen können. Das ist wenig überraschend und ein Signal an die Politik, dass eine fundierte Ausbildung wirklich wichtig ist.

Was wünschen Sie diesen kleinen Kindern?
Dass alle das Glück haben, in einer Kita mit Erzieherinnen und Erziehern aufwachsen zu dürfen, die vieles von dem berücksichtigen, was wir hier erarbeitet haben. Damit sie eine positiv ausgerichtete Entwicklung nehmen, sich wohl fühlen, aufgehoben fühlen und tolle Erfahrungen machen dürfen. Besonders wünsche ich das jenen Kindern, die schon erste Auffälligkeiten zeigen, die von Zuhause noch nicht so viel mitbringen.

Es ist aus weltweiten Studien bekannt, dass die sozial-emotionalen Kompetenzen mit dem sozioökonomischen Status zusammenhängen, vor allem mit dem Bildungshintergrund der Familie. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status bringen weniger sozial-emotionale Kompetenzen mit und sie haben in der Folge eher Probleme und schaffen z.B. nur niedrigere Bildungsabschlüsse. Diese Kinder brauchen mehr Förderung und dafür wollen wir Erzieherinnen und Erzieher fit machen.

Es geht also letztlich um Bildung?
Es geht um mehr: um das Dreieck Bildung, Gesundheit und Entwicklung. Das wird bei uns oft getrennt, hängt aber eng zusammen. Für eine gesunde Entwicklung sind Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeit und sich wohl fühlen massiv wichtig.

Kinder, die sozial-emotional kompetent sind, erleben sich als wirksam, haben mehr Freunde, kommen besser durch die Grundschule, kommen besser im Erwachsenenleben an. Die Erzieherinnen und Erzieher fördern in der Interaktion mit den Kindern diese grundlegenden Kompetenzen. Papilio-U3 legt damit die Basis für eine gesunde Entwicklung.

Mir ist wichtig zu betonen, welches Potenzial dieses Programm hat. Es ist perspektivisch wichtig, fördert den Start ins Leben. Förderprogramme sollten sich nicht auf bestimmte Fächer konzentrieren, sondern ganzheitlich arbeiten. Bildung und Gesundheit hängen wesentlich mit den sozial-emotionalen Kompetenzen zusammen.

Ich hoffe, dass das angesichts der aktuellen Probleme infolge von Covid-19 nicht vergessen wird. Gerade jetzt sind diese Themen wichtiger denn je.

Prof. Dr. Herbert Scheithauer

Prof. Dr. Herbert Scheithauer ist Leiter für „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin und die Papilio-Programme von den ersten Entwicklungen an. Foto: Banane Design Bremen

Download druckfähiger Bilddaten mit Klick auf das Bild

 

Zurück