Was brauchen diese kleinen Kinder in der Kita?

Dr. Ina Bovenschen zu Bindungsaufbau und Feinfühligkeitstraining bei Papilio-U3

Dr. Ina Bovenschen ist Entwicklungspsychologin an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg und am Deutschen Jugendinstitut. Ihr Schwerpunkt ist die Bindungsforschung, vor allem in den ersten sechs Lebensjahren: Bindung von Kindern an ihre Eltern, schwierige Bindungserfahrungen, Bindung in Pflege- oder Adoptivfamilien. Bei Papilio-U3 hat sie den Blick auf den Bindungsaufbau zu den Erzieherinnen und Erziehern gelenkt und maßgeblich am Feinfühligkeitstraining mitgewirkt.

Was brauchen Kinder unter drei Jahren, wenn sie in der Kita betreut werden?
Genau das haben wir uns gefragt, als wir die Fortbildung Papilio-U3 entwickelt haben: Welche Bedürfnisse haben diese kleinen Kinder? Für die Kinder ist das Spielen und Lernen natürlich sehr wichtig, aber das gemeinsame Spiel mit anderen Kindern steht noch nicht im Fokus, sie spielen mehr nebeneinander. Was die Kinder dagegen besonders brauchen, sind erwachsene Bezugspersonen.

Je nach Alter haben Kinder verschiedene Entwicklungsaufgaben: In den ersten Lebensjahren ist die Regulation der Gefühle wichtig. Wenn Kinder sich unwohl fühlen, zum Beispiel wenn sie Angst haben oder traurig sind, können sie das noch nicht selbst regulieren. Sie brauchen eine erwachsene Bezugsperson für ihre emotionalen Bedürfnisse. Das gibt ihnen Sicherheit.

Lernen können Kinder nur dann, wenn sie sich emotional sicher fühlen. Deshalb ist in der Kita ein emotional sicherer Raum wichtig. Dieses Grundbedürfnis greift Papilio-U3 auf.

Wie schafft eine Kita diesen sicheren Raum?
Dafür braucht ein Kind mindestens eine konstante Bezugsperson, zu der es eine sichere Bindung aufbauen kann. Bindung ist etwas individuelles, eine vertrauensvolle emotionale Beziehung eines Kindes zu einem Erwachsenen. Kinder bauen Bindungen von Geburt an auf, in der Regel zu den Eltern. Welche Qualität die Bindung hat, hängt von den Erfahrungen ab, die das Kind macht. Wenn es zum Beispiel weint und die Mutter (es kann auch der Vater sein) kommt und nimmt es hoch, dann lernt das Kind: „Mama tröstet mich. Mama ist für mich da.“ Wenn es das ganz oft und immer wieder positiv erlebt, dann entwickelt das Kind eine sichere Bindung an diese Bezugsperson.

Das lässt sich auf Kitas übertragen: Wenn eine Fachkraft häufig und richtig auf die Bedürfnisse des Kindes eingeht, dann kann das Kind eine sichere Bindung aufbauen. Das Verhalten der Erwachsenen ist also entscheidend.

Das klingt einfach und ein bisschen pauschal, wie kann man das vermitteln?
Insgesamt ist der Bindungsaufbau komplex, denn es spielen mehrere Verhaltenssysteme zusammen: Das Fürsorgeverhalten der Bezugsperson und das Bindungs- und das Explorationsverhalten beim Kind.

Was ist Explorationsverhalten?
Eine Art Gegenpol zum Bedürfnis der Kinder nach Nähe, Trost und Zuwendung. Ein Kind strebt danach, die Umwelt zu erkunden, neugierig etwas zu entdecken und so etwas zu lernen – es exploriert. Wenn es einem Kind nicht gut geht, wird das Bindungsverhaltenssystem aktiviert: Es zeigt Bindungsverhalten und sucht die Nähe und Zuwendung seiner vertrauten Bezugspersonen. Eine Erzieherin nimmt es dann zum Beispiel auf den Arm und tröstet es. Wenn das Kind sich dann wieder sicher fühlt, kann es wieder die Welt erkunden. Bei älteren Kindern kann Nähe auch durch Sprache hergestellt werden, aber die kleineren brauchen die körperliche Zuwendung, um sich sicher zu fühlen. Und das ist natürlich eine Herausforderung in der Kita, wenn die Fachkraft viele Kinder in einer Gruppe hat.

Wie geht das?
Hier kommt die Feinfühligkeit ins Spiel, sie ist der bedeutsamste Faktor für die Bindungsentwicklung. Erzieherinnen und Erzieher müssen lernen, wie diese kleinen Kinder ihre Gefühle ausdrücken und welche Unterstützung sie bei der Regulation ihrer Gefühle brauchen. Eine feinfühlige Person beherrscht vier Schritte: Sie nimmt (1) die Signale und Bedürfnisse des Kindes wahr, (2) interpretiert sie richtig und reagiert (3) angemessen und (4) prompt darauf. Die Zeit ist hier wichtig, eine Fachkraft sollte also möglichst schnell reagieren. Im Idealfall erkennt sie bei einem Kind zum Beispiel schon am Verhalten oder am Gesichtsausdruck, noch bevor es weint, dass etwas nicht stimmt.

Und das kann man lernen?
Ja, wir wissen aus vielen Jahren Familienarbeit, dass feinfühliges Verhalten mit Hilfe eines videogestützten Feinfühligkeitstrainings gelernt werden kann. Elemente daraus haben wir im Rahmen von Papilio-U3 für die Fachkräfte angepasst. Die Erzieherinnen und Erzieher filmen sich im Kita-Alltag selbst und entsprechend ausgebildete Trainerinnen und Trainer geben ein Feedback. Davor steht natürlich die Psychoedukation, also die Wissensvermittlung zu Bindung und Feinfühligkeit.

Die Videoarbeit hat sich bewährt, weil Eltern und Fachkräfte ihr eigenes Verhalten aus einer ganz neuen Perspektive sehen können. Im Video wird manchmal ein anderes Bild sichtbar, und das Ziel ist, die Gefilmten zu bestärken. Das erreichen wir, indem unser Feedback ressourcenorientiert ist. Es geht nicht darum, welches Verhalten nicht gut ist, sondern wir konzentrieren uns auf das, was gut gelingt. So erkennen die Fachkräfte, welches Verhalten sie gegenüber dem Kind öfter zeigen sollten und wie sie den Bindungsaufbau hin zur sicheren Bindung fördern. Erst im weiteren Vorgehen wird bei Bedarf auch noch nicht gelungenes Verhalten angesprochen und gemeinsam überlegt, wie sie das verbessern.

Was passiert, wenn Kindern der sichere Bindungsaufbau nicht gelingt?
Wenn Kinder negative Erfahrungen machen, also zum Beispiel weinen und keine Zuwendung und keinen Trost erfahren, dann lernen sie, dass niemand für sie da ist. Sie entwickeln unsichere Bindungsmuster: unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent.

Sicher gebundene Kinder zeigen eine ausgewogene Balance zwischen Nähebedürfnis und Exploration. Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung vermeiden, zum Beispiel wenn sie traurig sind oder es ihnen nicht gut geht, eher Nähe und Kontakt zu ihrer Bindungsperson. Sie haben einen starken Explorationsdrang und wirken zum Beispiel bei einer Trennung von ihrer Bindungsperson nach außen hin nicht belastet. Wir wissen aber aus der Forschung, dass sie auf körperlicher Ebene belastet sind. Das lässt sich an Stresshormonspiegeln messen.

Unsicher-ambivalent gebundene Kinder dagegen suchen bei Belastung viel Nähe und Kontakt zu ihrer Bindungsperson. Sie reagieren emotional sehr stark auf Stresssituationen, sind aber schwer durch die Bindungsperson zu trösten und schaffen es dann auch nicht, zum Spiel zurückzukehren.

Die meisten Kinder sind in der Lage, sichere Bindungen aufzubauen, tatsächlich gelingt es etwa 50 bis 60 % der Kinder, unabhängig von der Kultur. Wenn die Bedürfnisse der Kinder allerdings nicht erfüllt werden, zum Beispiel wenn sie vernachlässigt oder misshandelt werden, dann sind sichere Bindungen eher die Ausnahme.

Zahlreiche Studien weltweit belegen, dass eine sichere Bindung ein Schutzfaktor für die kindliche Entwicklung ist. Wenn Kinder zahlreichen Risiken ausgesetzt sind, zum Beispiel große Armut, ein schwieriges soziales Umfeld, Krankheit, Gewalt, dann kann eine sichere Bindung dafür sorgen, dass sie sich trotz widriger Umstände positiv entwickeln.

Was kann die Kita machen, wenn es schon in der Familie nicht ideal läuft?
Eine sichere Bindung außerhalb der Familie ist gerade dann wichtig, wenn schwierige Erfahrungen dazu geführt haben, dass das Kind unsichere Bindungen zu den Eltern entwickelt hat, oder wenn es überhaupt keine emotional verfügbaren Bezugspersonen hat. Ein Kind kann zu verschiedenen Personen verschiedene Bindungen aufbauen. Neue Personen in der Kita sind für das Kind erst einmal fremd, es braucht Zeit, um zu lernen: Diese Erzieherin nimmt mich auf den Arm und kann mich trösten, sie ist schnell da, wenn ich sie brauche. Wenn das Kind das oft genug erlebt, kann es eine sichere Bindung zu dieser Erzieherin aufbauen.

Die Erfahrungen sind entscheidend, welche Bindung das Kind zu einer Fachkraft aufbaut. Kinder können sichere Bindungen zu den Eltern haben, aber in der Kita keine sicheren Bindungen aufbauen – und umgekehrt.

Und wenn eine Bezugserzieherin den Job wechselt?
Jede Bindungsbeziehung ist einmalig, und Bindungspersonen sind nicht ersetzbar. Trennungen von der Bindungsperson führen zu Trauer oder gar Verzweiflung, zum Beispiel beim Verlust einer Bindungsperson. Es können aber neue Bindungen aufgebaut werden, die auch die Verlusterfahrung ausgleichen können. Dies wissen wir zum Beispiel aus Pflegefamilien.

Unser Anliegen ist, dass Wissen über Bindung und Feinfühligkeit in die Kitas kommt. Die Bedürfnisse der kleinen Kinder müssen im Mittelpunkt stehen. Der Ausbau der Kitaplätze ging in den letzten Jahren rasant voran, nun müssen wir auch bei der Ausbildung der Fachkräfte nachziehen. Die emotionale Entwicklung, das Ausdrücken der Gefühle, die Hilfe bei der Regulation, das Schaffen emotionaler Sicherheit für das Kind – das steht in der Ausbildung selten im Fokus. Doch Bindungen sind kein Luxus, sie sind überlebenswichtig. Für uns alle.

Dr. Ina Bovenschen

Dr. Ina Bovenschen von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat bei der Entwicklung von Papilio-U3 den Blick auf den Bindungsaufbau zu den Erzieherinnen und Erziehern gelenkt und maßgeblich am Feinfühligkeitstraining mitgewirkt. Foto: dji\außerhofer.

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