Kinder müssen sich in der Schule wohlfühlen

BASIS-INFORMATION. Interview mit Univ.-Prof. Dr. Herbert Scheithauer zur Prävention in Grundschulen

Augsburg/Berlin, 2023. Univ.-Prof. Dr. Herbert Scheithauer leitet den Arbeitsbereich „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen in der Klinischen und Entwicklungspsychologie. Er hat die Entwicklung von Papilio seit 2003 begleitet und arbeitet maßgeblich in der Papilio-Programmentwicklung und -Forschung mit.

Frage: Warum braucht es ein Präventionsprogramm schon beim Einstieg in die Grundschule.
Prof. Scheithauer: Weil dieser Übergang von der Kita in die Grundschule eine große Herausforderung ist, der Eintritt in eine neue Welt. Zum Beispiel verlieren manche Kinder Freund*innen, weil diese in eine andere Schule gehen, oder haben Probleme, sich an die neue Umgebung anzupassen. Deshalb ist es wichtig, Kinder und Familien zu unterstützen.

Wie kann man da helfen?
Prof. Scheithauer: Indem wir die Kinder abholen und ihnen etwas anbieten, das sie wiedererkennen. Zum Beispiel ihnen die Geschichte „Paula kommt in die Schule“ vorlesen und dann mit der Geschichte arbeiten. Damit spüren sie noch ein wenig von der Behaglichkeit der Kita-Zeit.

Das klingt mehr nach Wohlfühlprogramm als nach Unterricht …
Prof. Scheithauer: … ja genau – und das ist enorm wichtig. Eines unserer wichtigsten Anliegen ist das sozial-emotionale Lernen. Wir wissen aus vielen Studien, dass Kinder mit hohen sozial-emotionalen Kompetenzen auch bessere Schulleistungen zeigen. Das liegt daran, dass sozial-emotionales Lernen dazu führt, dass das Kind gerne in die Schule geht, gerne dort ist, sich wohl fühlt und positive Erfahrungen sammelt – und dann lernt es auch den Unterrichtsstoff besser. Deshalb ist sozial-emotionales Lernen auch in den Schulgesetzen verankert und wir haben das Programm dazu entwickelt.

Was bedeutet sozial-emotionales Lernen konkret?
Prof. Scheithauer: Das umfasst Prozesse wie Fürsorge entwickeln, gemeinsam Entscheidungen treffen, konstruktive Lösungen finden, Leistungsaufgaben strukturiert angehen, Impulskontrolle lernen. All das funktioniert nur, wenn die Kinder das miteinander erarbeiten und dabei auch lernen, den*die andere*n einzuschätzen, zu verstehen, wie sich jemand fühlt oder was er*sie denkt.

Wie packt man ein solches Präventionsprojekt an?
Prof. Scheithauer: Mit einem kompetenten Team von Wissenschaftler*innen, Praktiker*innen und Partner*innen, die Wissen und Erfahrung aus allen notwendigen Bereichen mitbringen. Und dann gib es ganz viele Schritte und Faktoren, die ständig ineinandergreifen, also z.B.: Den Zugang zu den Grundschulen bekommen. Den aktuellen Forschungsstand in Psychologie, Pädagogik und Erziehungswissenschaft recherchieren. Den Rahmen für die Programmentwicklung setzen. Lieder, Materialien, Geschichte entwickeln – zusammen mit den Künstler*innen der Augsburger Puppenkiste. Lehrkräfte für das Modellprojekt gewinnen und darin fortbilden. Machbarkeit und Wirkung mit einer Studie überprüfen.

Die Augsburger Puppenkiste mit Marionetten? Ist das nicht überholt für die Schulkinder von heute?
Prof. Scheithauer: Dann könnte ich auch sagen, man sollte Kindern nicht mehr aus Büchern vorlesen … Wir wussten aus dem Kindergartenpräventionsprogramm Papilio-3bis6, dass „Paula und die Kistenkobolde“ eine Erfolgsstory ist. Und dann muss man das erlebt haben, wie Kinder bei Aufführungen auf die Puppen zugehen, das funktioniert einfach – sogar bei Erwachsenen. Die Kinder sind auf die Puppen fokussiert, sie können sie anfassen, das ist durch Digitalmedien überhaupt nicht zu ersetzen. Zudem ist eine Aufführung mit der Puppenkiste etwas Schönes, Warmes, Gemeinsames. Die Kinder freuen sich sehr auf die Helden ihrer Story, die ihnen bisher nur vorgelesen wurde, und auf das gemeinsame Erlebnis.

Aber was bringt so eine Puppengeschichte?
Prof. Scheithauer: Das ist nicht „irgendeine“ Geschichte. Sie wurde entwickelt, um eines der wichtigsten Präventionsziele zu unterstützen, nämlich die sozial-emotionalen Kompetenzen der Kinder zu fördern. Damit lernen die Kinder im Unterricht über mehrere Monate z.B. den Umgang mit Sekundäremotionen wie Scham, Neid oder Schuld. Wenn sie das beherrschen, fühlen sie sich auch wohler und lernen besser.

Welche weiteren inhaltlichen Ziele haben Sie?
Prof. Scheithauer: Wir verfolgen vielfältige Präventionsziele auf unterschiedlichen Ebenen, die sich auch gegenseitig beeinflussen. Ich kann hier nur Beispiele nennen:

  • Kinder lernen, Probleme Schritt für Schritt zu lösen, nicht einfach nur impulsiv loszulegen. In der Geschichte „Paula kommt in die Schule“ sind solche Probleme eingebaut, die die Kinder lösen lernen.
  • Sie verbessern ihre Exekutivfunktionen, also die geistigen Funktionen, die sie brauchen, um ihr Verhalten zu steuern. Dazu gehören zum Beispiel das Arbeitsgedächtnis, um sich Dinge zu merken und sich zu sortieren, oder die Aufmerksamkeitssteuerung, um, wenn vieles gleichzeitig passiert, ihre Aufmerksamkeit auf das Wichtige zu richten.

Langfristig verfolgt Papilio das Ziel, dass Verhaltensprobleme bei Kindern zurückgehen bzw. nicht auftreten – und davon profitieren auch die Lehrkräfte. Wenn es z.B. laut ist oder wenn Kinder stören, bietet das Programm bestimmte Maßnahmen, damit die Gruppe lernt, ruhiger zu sein oder Arbeitsaufgaben zu erledigen. Das wird spielerisch geübt und macht den Kindern Spaß.

Wie wichtig ist die Rolle der Lehrkräfte?
Prof. Scheithauer: Zentral wichtig! Sie beobachten, kennen und begleiten die Kinder, sind wichtige Personen im Leben der Kinder und also auch für das Programm wichtig. Zudem brauchen wir die Lehrkräfte, weil nur sie beurteilen können, ob das, was wir in der Theorie erarbeitet haben, auch in der Praxis funktioniert.

Was verändert sich für die Lehrkräfte?
Prof. Scheithauer: Die Haltung. Es kommt darauf an, WIE Lehrkräfte die Beziehung zu den Kindern gestalten. Wir vermitteln eine wohlwollende, fördernde Haltung und entsprechende Methoden. Lehrkräfte beeinflussen die positive Entwicklung der Kinder aktiv und fördern deren Fertigkeiten. Sie unterstützen z.B. impulsive Kinder darin, dass sie ihr Verhalten und ihre Emotionen besser regulieren können. Oder sie fördern gute Beziehungen zwischen allen Kindern. Kinder sollen sich mögen und schätzen, denn sie verbringen viel Zeit miteinander. Gute Gleichaltrigenbeziehungen wirken präventiv, sie sind ein wichtiger Schutzfaktor im späteren Leben.

Wir nutzen dafür auch Elemente der positiven Psychologie, zum Beispiel auf positives Verhalten eines Kindes zu achten, nicht auf Negatives zu fokussieren.

Wie geht das? Auf Kinder, die stören, muss man ja reagieren.
Prof. Scheithauer: Wir vermitteln Methoden, wie Lehrkräfte sich – trotz großer Klassenstärke – auf einzelne Kinder und ihre Stärken konzentrieren und ihnen gezielt positive Rückmeldungen auf erwünschtes Verhalten geben. Sie unterstützen zudem den Wissens- und Leistungsdurst und die Neugier der Kinder, indem sie ihnen genau sagen, was sie gut können und wo sie sich verbessern können. Ziel ist, dass Kinder positive, selbstwertdienliche Erfahrungen machen und merken: „Ich kann was.“ Sie sollen sich zufrieden und wohl fühlen. Wer sich unwohl fühlt oder Angst hat, lernt nicht gut – oder stört.
Verbesserung des Klassenklimas, Wohlbefinden und Selbstwirksamkeit sind ein roter Faden, der sich (neben dem sozial-emotionalen Lernen) durch alle Maßnahmen zieht. Und wir haben Rückmeldungen von den Lehrkräften, dass sie gerne damit arbeiten und die positiven Folgen erleben.

Wie lange dauert das?
Prof. Scheithauer: Das geht nicht von heute auf morgen, denn der Übergang in die Grundschule ist eine Herausforderung und die Kinder brauchen Zeit, das zu lernen. Hier wünschen wir uns auch das Vertrauen der Eltern, dass die Kinder das spielerisch üben dürfen. Wir beziehen deshalb die Eltern über Newsletter und Veranstaltungen mit ein.

In Deutschland ist alles auf zunächst naheliegende Bildungskompetenzen wie Lesen, Schreiben, Rechnen ausgerichtet, das sozial-emotionale Lernen kommt zu kurz – und ist doch ebenso bedeutsam, weil es langfristig auch die Schulnoten und den Bildungs-Outcome verbessert – das belegt eine Vielzahl von Studien.

Was ist Ihr persönlicher Wunsch für die Zukunft?
Prof. Scheithauer: Wenn unsere Studie erbringt, dass das Programm so wirkt und funktioniert, wie wir uns das vorstellen, dann wünsche ich mir, dass wir in den Schulen und der Gesellschaft die Erkenntnis beflügeln, dass sozial-emotionales Lernen so essentiell wichtig ist, dass es zum Schulalltag dazugehören muss. Sozial-emotionales Lernen ist kein „verspielter Klimbim“, sondern sollte Hauptbestandteil des Unterrichtsgeschehens werden. Die Schule muss ein sozialer Lernort werden, wo Kinder, Eltern und Lehrkräfte gerne hingehen.
Und ich wünsche mir, dass die Lehrkräfte es mit unserem Programm besser schaffen, jedem Kind individuell mit all seinen Kompetenzen und Belangen gerecht zu werden. Wir bieten die Methoden dazu.

Pressekontakt Papilio:
Sarah Wehn, Telefon 0821 4480 3299
Andrea Nagl, Telefon 0821 712034
E-Mail medien@papilio.de
www.papilio.de

Prof. Dr. Herbert Scheithauer

Prof. Dr. Herbert Scheithauer ist Leiter für „Entwicklungswissenschaft und Angewandte Entwicklungspsychologie“ an der Freien Universität Berlin und begleitet Papilio von den ersten Entwicklungen an. Foto: Banane Design Bremen

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